Wind und Beton contra Klimawandel – auch im sozialen Wohnbau!

Wie können wir heute nachhaltig bauen – und zwar so, dass alle etwas davon haben? Ein Vorzeigeprojekt in Wien gibt gleich mehrere Antworten auf diese Frage: Auf drei Bauplätzen im 22. Gemeindebezirk der Hauptstadt entstehen insgesamt 160 Wohneinheiten. Es sind geförderte Mietwohnungen mit und ohne Eigentumsoption, freifinanzierte Mietwohnungen und ebenfalls geförderte SMART-Wohnungen. In vielen Bereichen sind diese Wohneinheiten vorbildlich. Besonders beim Heizen und Kühlen, denn das funktioniert über die Thermische Bauteilaktivierung (TBA). Mit Windenergie. Und mit der Speichermasse eines besonders innovativen Baustoffs: Beton nämlich.

Besichtigung: Die Wiener Magistratsabteilung 20 Energieplanung lud Vertreter der städtischen Baudirektion, des bmvit, von Urban Innovation und der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ) ein. Repräsentanten des Bauträgers Neues Leben, der Planungsbüros und der PORR AG führten über die Baustelle

Als im Juni 2018 ein von der Wiener Magistratsabteilung MA 20 Energieplanung organisierter Baustellenbesuch in der Mühlgrundgasse stattfand, war das Interesse gewaltig. Geladen waren Vertreter der städtischen Baudirektion, des Innovationsministeriums, von „Urban Innovation“ und der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie (VÖZ). Sie alle ließen sich von Johann Gruber die spannenden Zusammenhänge erklären, mit denen das Projekt in der Donaustadt überrascht.

Johann Gruber, Direktor des Bauträgers „Neues Leben“, führte die Besucher über die Baustelle und wies immer wieder auf die Besonderheiten hin: „Die Wohnungen werden mit Erdwärme geheizt und erstmals im Sommer auch gekühlt,“ erklärte er, „die Wärmepumpe wird mit Überschuss-Windstrom betrieben. Für eine 70 bis 80 Quadratmeter große Wohnung sollte die Jahresrechnung für Heizung, Kühlung und Warmwasser unter 300 Euro betragen!“

Thermische Bauteilaktivierung mit Beton – erstmals im sozialen Wohnbau

Wärmepumpe? Überschuss-Windstrom? Das muss erklärt werden: Denn genau das ist das Herausragendste an diesem Projekt, das in vielen Punkten Maßstäbe setzt. Im 22. Wiener Bezirk wird nämlich erstmals überhaupt die Thermische Bauteilaktivierung im sozialen Wohnbau eingesetzt.

Rohrregister: Hier wird warmes oder kaltes Wasser fließen – zum Heizen oder zum Kühlen. Im Hintergrund: Andrea Kuster erläutert das System

TBA, wie dieses Verfahren innerhalb der Baubranche genannt wird, ist eine denkbar einfache Technologie: Hier wird in erster Linie die unglaubliche Speicherfähigkeit von Beton genutzt, also ganz simpel die Gebäudemasse. Der Baustoff wirkt allein durch seine Beschaffenheit thermisch ausgleichend – und ist somit ideal zur  Temperaturregulierung. Denn auch ohne Bauteilaktivierung federt Beton die üblichen Temperaturschwankungen stark ab. Wenn aber in Wände, Decken und Böden ein Rohrsystem integriert wird, können alle statisch notwendigen Teile zum Heizen und Kühlen genutzt werden. In den Rohren zirkuliert in aller Regel nämlich bloß Wasser. Das muss im Winter nicht einmal richtig heiß sein, um die Wände so zu wärmen, dass sie ganz langsam die „erhöhte Temperatur“ an die Räume abgeben. Und genau das sorgt für die perfekte Wohnatmosphäre im Haus.

Schon seit Jahren ist die Thermische Bauteilaktivierung in der modernen Architektur „state of the art“. Vor allem in öffentlichen Gebäuden wird sie eingesetzt, etwa in Schulen, in Krankenhäusern oder Verwaltungsgebäuden. Der Trend zur privaten Nutzung ist klar erkennbar, immer mehr Häuslbauer setzen darauf, dauerhaft Energiekosten zu sparen und sich rundum wohlzufühlen in den eigenen vier Wänden. Jetzt feiert die Technik ihre Premiere im sozialen Wohnbau.

Beton als sozialer Baustoff

click & watch: MGG22 im Film – interessantes Video zum Großprojekt

Der soziale Aspekt, der Beton sowieso auszeichnet, kommt hier also voll und ganz zum Tragen. Johann Gruber, Direktor des Bauträgers, stellt entsprechend fest: „Solche niedrigen Energiekosten unterstützen leistbares Wohnen.“ Und: „ Dieses Projekt wird keinesfalls ein Einzelfall bleiben!“ Dass das Bauprojekt seinen Vorzeigecharakter erst so richtig ausspielen kann, ist Projektentwickler Norbert Mayr zu verdanken. Mayr, Geschäftsführer der M2plus Immobilien GmbH, hatte nämlich die großartige Idee, Überschuss-Windenergie in Beton zu speichern. Um den Erfolg zu gewährleisten, wurde ein renommierter Energieplaner zum Projekt hinzugezogen: Harald Kuster.

Harald Kuster war erst kurz zuvor mit dem Energy Globe 2018 Salzburg ausgezeichnet worden, gemeinsam mit einem Team der Bauakademie. Die Auszeichnung erhielt er für seine Pionierleistungen im Bereich der TBA, wie es „Report“ formulierte: „Der Salzburger Energieberater Harald Kuster zählt zu den absoluten Pionieren der Bauteilaktivierung in Österreich.“ Mit seinem Unternehmen „FIN – Future is now“ ist er für die Auslegung des Systems verantwortlich: „Das Projekt MGG22 trägt dazu bei, dass wir die notwendigen vorhandenen Betonbauteile eines Gebäudes mit einer einfachen Lösung sinnvoll als Speichermasse nutzen können. Hinzu kommt, dass wir erneuerbare Energie dann verwenden, wenn sie im ‚Überfluss‘ vorhanden ist.“

Bernd Vogl erklärt die Vorteile des intelligenten Heiz- und Kühlsystems. Planungsdirektor Thomas Madreiter zeigt sich beeindruckt

Energie im Überfluss

Die Energie, die hier im Überfluss zur Verfügung steht, kommt vom Wind und aus der Erde. Ein Windstrom-Lastmanagement sorgt dafür, dass der Strom zum Betrieb der Wärmepumpen weitestgehend aus Überschussproduktion stammt. Davon ist auch Roman Prager begeistert, Projektverantwortlicher beim Windkraftbetreiber WEB: „Um den Anteil erneuerbarer Energien weiter steigern zu können, braucht es einfache, langlebige und kostengünstige Speichermöglichkeiten wie die Thermische Bauteilaktivierung,“ sagt er, „ dazu eine intensive Zusammenarbeit von Projektbetreiber, Nutzer und Ausführungsplaner – und Mut.“

Insgesamt wird rund ein Drittel des Endenergiebedarfs für das Heizen und Kühlen benötigt. Damit kommt dem Gebäudesektor eine Schlüsselrolle zu, wie auch Sebastian Spaun betont, seines Zeichens Geschäftsführer der Vereinigung der Österreichischen Zementindustrie. „Es gilt, den Anteil erneuerbarer Energie im Bereich der Gebäude drastisch zu steigern,“ lautet seine klare Forderung. „Dazu brauchen wir Speicher. Die Thermische Bauteilaktivierung sollte daher künftig auch in großen mehrgeschoßigen Gebäuden eingesetzt und für das Heizen und Kühlen optimiert werden!“

Mehr als wohnen? Essen!

Das mit so vielen Vorschusslorbeeren bedachte Projekt MGG22 zeigt schon auf dem Stadtplan seine ersten Vorteile. Es befindet sich ein paar Gehminuten entfernt von der Station Stadlau, wo U- und S-Bahn bestens erreichbar sind. Ein Schwerpunkt für die Gestaltung des Wohn- und Lebensraumes lautet „Essbare Stadt“. Dazu zählen private Balkone und Loggien, Terrassen-Gärten mit Hochbeeten und der angrenzende Wald- und Wiesengürtel. Die Gebäude werden im Niedrigenergiehausstandard errichtet, der Heizwärmebedarf beträgt etwa 24 bis 28 kWh/m²a. Die Wärme für Heizung und Warmwasser wird über Sole/Wasser-Wärmepumpen in Verbindung mit Erdwärme-Tiefensonden erzeugt, im Sommer wird das Sondenfeld regeneriert.

Erneuerbare Energiequellen in Kombination mit Beton: Mit insgesamt 30 Erdsonden wird Geothermie über Niedertemperatursysteme effizient genutzt

Niedrigenergie mit Erdsonden

Insgesamt dreißig Erdsonden werden gebohrt und verbaut, die entzogene Erdwärme wird beim Heizen mit einer Wärmepumpe auf ein höheres Temperaturniveau gebracht. Im Sommer wird Wärme entzogen – also genau umgekehrt. Ein ausgeklügeltes System also, bei dem ebenfalls die faszinierende Speichermasse von Beton genutzt wird.

Die Kombination aus Windenergie und Erdwärme macht das Projekt nahezu einzigartig. Im sozialen Wohnbau gibt es, wie erwähnt, tatsächlich nichts Vergleichbares. Die Bewohner dürfen sich schon jetzt freuen: auf ein Projekt, das durch gute Planung Ruhe und Privatheit verspricht, das aber auch für Begegnung und Kommunikation steht, wo sie eben gewünscht sind.

Wer sich jetzt übrigens noch fragt, wo die vermeintlich kryptische Bezeichnung MGG22 herkommt – die Auflösung ist einfach: MGG steht für die Mühlgrundgasse, die 22 bezeichnet den Bezirk Donaustadt. Es ist also praktisch die Adresse.